Ein zweites Leben

Publié le par rose

 

_3897.jpgEin zweites Leben

Ich wollte reinen Tisch machen. Tabula rasa. Ich habe also alles weggeworfen und den Tisch ordentlich abgewischt. Auf der freien sauberen Fläche habe ich mein Leben ausgebreitet. Einen Text mit begrenzter Seitenzahl. Das war vor fünf Minuten. Und als ich wieder kam, fand ich das Papier voller Flecken, rot, lila, schwarz gefärbt. Alles verschwommen, unlesbar. Die Tinte wurde vom Papier aufgesaugt. Dabei habe ich alles extra in Schwarz-Weiß ausgedruckt, um gut lesbar zu sein. Ich wollte mich besser verstehen. Ich wollte nachvollziehen, wie es kam, dass ich mich verlassen habe. Seit ein paar Jahren stehe ich neben mir. Ich funktioniere weiter gut. Es hat noch niemand, außer mir, bemerkt. Das ist auch besser so. Es beunruhigt. Ich selbst versuche auch die Situation im Griff zu behalten. Dafür habe ich mir einen Engel erfunden. Leider ist er letzte Woche ausgeflogen. Und nun sitze ich da mit einem Papier voller Flecken und ohne Unterstützung, alleine mit meiner Geschichte. Oder besser gesagt: ohne Geschichte. Ich würde gerne den Tintenfleck in Kunst verwandeln, ihm Form geben! Das heißt, ich habe noch nicht ganz aufgegeben. Ich könnte aber auch, ein komplett neues Papier herausholen. Ein unbeschriebenes, weißes Blatt. Ich dachte, dass es das in meinem Alter nicht mehr gäbe. Aber heute, als ich den Fleck sah und alles weg war, habe ich mich gefragt, ob es nicht doch möglich sein könnte, ein zweites Leben zu erfinden.

Ein Buchstabe neben dem anderen. Jeder erscheint in derselben Farbe.

Darüber ein weißer Fleck Erinnerung. Die Erinnerung versucht alles auszulöschen. Weiß auf Weiß. Eine unscheinbare Erinnerung. Eine Erinnerung, die sich aus dem Untergrund des Vergessens gestohlen hat. Eine Erinnerung, die sich retten wollte.

Ich sollte mich auflösen. In alle Einzelteile zerspringen. Ein Planet beim Urknall.

Ich könnte also ohne mich weiterleben. Ohne Erinnerung. Ohne Vergangenheit. Ohne Kindheit. Ohne Psychoanalyse. Ohne Schuldgefühle.

Ein Gedanke vor dem Denken.

Ein weißer Fleck auf weißem Hintergrund.

Ich glaube, ich wollte mein anderes Leben schon vor zehn Jahren anfangen, aber es war nur der Versuch einer Verschiebung. So wie wenn man einen Apfelbaum zum Kirschbaum um pfropft. Das ist schon eine ganze Menge, aber nicht das, was ich wirklich wollte. Ich will mehr! Aber gibt es ein zweites Leben ohne ein erstes? Gibt es einen Gedanken ohne Erfahrung? Gibt es den Augenblick, das Hier-und-Jetzt ohne Vergangenheit?

Es ist der Augenblick Ewigkeit, der vertikal in die Zeit eintaucht.

Ich mache mich also ans Werk. Ich überlasse das befleckte Papier seinem Schicksal. Ich beschließe, nicht den Fleck zu bearbeiten, sondern ein neues Blatt herauszuholen. Es muss ein solides Blatt Papier sein. Mehr als ein Standardpapier. Grösser, stärker, ohne Rand. Ich könnte in den Sand schreiben. Ich möchte mich ohne Worte zur Welt bringen. Das Papier liegt vor mir. Unschuldig weiß.

 

Ich schwinge den Pinsel. Ich entscheide mich für Weiß. Weiße Schrift auf weißem Grund. Ich halte mich nicht an den Rändern auf. Das Blatt ist zu klein. Selbst der Tisch reicht nicht aus. Ich stehe auf. Ich verlasse die Terrasse. Ich ziehe aus, um mich zu erobern, zu entdecken, zu verwirklichen. Ich möchte ich werden. Ich lasse das Papier als ein unbeschriebenes Blatt zurück. Ich behalte meine Worte für mich. Ich summe ohne Worte vor mich hin. Um mich herum herrscht das Leben. Es ist allgegenwärtig. Es ist groß und schlank. Sehr graziös. Es erwartet nichts von mir. Ich ziehe an ihm vorbei. Es beachtet mich nicht. Ich summe weiter vor mich hin. Mal leise, mal laut. Ich schwinge die Arme zu einem großen Pinselstrich. Ich male Kreise in die Luft. Ich male auf eine durchsichtige Leinwand. Ich sehe nicht klar. Die Leinwand hat Fettflecken. Ich gehe an mir vorbei. Ich breite mich aus. Ich bin der Tautropfen auf einem samtenen Rosenblatt. Ich schwinge in einem anderen Rhythmus. Ich kann den Rhythmus nicht bestimmen. Das Blatt schaukelt. Ich schwinge mit.

Das Leben nimmt Form an.

Ich erfinde mich. Ich und Du.

Ein Schneeflöckchen lernt den Sommer kennen. Die geschmolzenen Sternchen sind in der trockenen Erde versickert. Es ist heiß. Sie benetzen die im Boden zerstreuten Samen. Die Zukunft lässt sich sanft zwischen den ehemaligen Schneeflöckchen nieder. Sie bahnt sich geruhsam ihren Weg. Zeit ist Ewigkeit. Meine Wei-s-sheit ist durchsichtig wie reines Wasser. Jedes Tröpfchen nimmt seinen Lauf. Ich gehe nicht mehr auf eingefahrenen Bahnen. Ich gehe durch Mauern und oszilliere zwischen Zellwänden. Ich habe keinen Anfang und kein Ende. Ich allein bin.

Und irgendwo liegen sieben Millionen Dollar für mich bereit, aber es ändert nichts. Sie haben so wenig Bedeutung wie das Datum. Was kann ein Engel mit Geld anfangen?

Ich könnte ein Menschenkind begleiten. Ich könnte zu mir zurückkehren und wieder Ich werden, um die sieben Millionen sinnvoll zu nutzen. Ich würde eine Spende für Amnesty for Women machen und meiner Freundin ein neues Auto kaufen. Ich könnte einer jungen Architektin den Einstieg in den Beruf ermöglichen, indem ich sie das Haus meiner Träume bauen lasse. Ein Haus, das genug Platz bietet, um Gäste zu empfangen, aber nicht zu groß ist, damit ich mich nicht darin verloren fühle. Ein helles Haus mit viel Glaswänden und Lichtquellen überall. Ich brauche Helligkeit, um der Dunkelheit in meiner Seele zu entkommen. Es ist nicht einfach, Ich zu sein.

Ich will all’ die frommen Wünsche und vorschnellen Versprechungen vergessen. Das Papiergeld hat ja keinen Wert, auch wenn ich es in Gold anlege, solange ich mein altes Ich herumschleppe. Ein Schneeflöckchen hat im Sommer nichts verloren. Es ist ja nicht nur zur falschen Zeit am falschen Ort, sondern auch in der falschen Inkarnation.

Ich konnte gerade noch rechtzeitig umdrehen, als ich die Engel singen hörte. Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. So ein Chor kann schon eine eigenartige Atmosphäre verbreiten. Er hat etwas Magisches. Eine Welt mit ganz anderen Dimensionen. Sobald ich diese Stimmen höre, öffnen sich alle Poren und ich werde wie von einem Magnet angezogen. Bloß traue ich mich nicht in diese Welt. Was fehlt mir für diese Reise? Was brauche ich noch um den Schritt zu wagen? Der Abgrund ist zu groß oder ist es nur eine innere Warnung? Eine kindlich eingeimpfte Angst? So wie mir immer gesagt wurde: „Steig bloß nicht zu einem fremden ins Auto“. Der Gesang der Engelsstimmen ist zu hoch für mich.

Eigentlich mag ich Musik und ich gehe gerne ins Konzert. Ich habe sogar selbst schon im Chor gesungen, aber das war zu viel. Wenn Engel singen, kriege ich eine Gänsehaut. Umdrehen, war das einzig Richtige. Nur wohin flüchten und wovor? Warum löst dieser Engelschor eine Angst in mir aus? Was, wenn ich selbst mitsingen würde? Könnte ich mich unter den Engeln aufhalten? Unter den Engeln verstecken oder selbst ein Engel sein? Ein Engel werden? Aber sind Engel nicht Lichtwesen? Körperlos? Ich lebe im Moment in meinem Körper. Wie könnte ich ihn verlassen, wo ich ihn eben erst wiedergefunden habe? Ich bin mein Körper. Mein Körper, das bin ich.

Ich atme. Ich atme ein. Ich atme aus. Ich fülle jede Zelle mit Lebensenergie. Nein, es ist die Zelle, die Lebensenergie ausstrahlt. Wenn sie zu viel davon hat, entsteht eine Überproduktion. Krebs. Wucher. Überfluss an Wachstum. Wie in der Wirtschaft vor einer Krise. Krebs macht Angst. Wenn sich ein Tumor bildet, versammeln sich die Engel zum Chor. Aber in den meisten Fällen vermehren sich Zellen auf gesunde Weise. Das bedeutet in einem ausgewogenen Verhältnis. Sie stellen sich auf ihre Umgebung ein. Es gibt tausende von Varianten. Eine außergewöhnliche Koordination, ein unglaubliches Konzert. Wer hat die Partition geschrieben? Wer dirigiert? Wo bin ich in der ganzen Geschichte?

Wenn ich mich in die Welt der Engel begeben könnte, dann würde ich vielleicht mehr erfahren, gelten sie doch nicht nur als Licht- sondern auch als Zwischenwesen. Also, nur Mut! Los geht die Reise! Dieses Mal werde ich mich nicht vom Chor überraschen lassen oder gar umdrehen. Dieses Mal werde ich mir einen Engel als Begleitung mitnehmen. Meinen Engel.

Unsere Beziehung besteht schon eine ganze Weile. Ich habe ihn kennen gelernt, oder sollte ich besser sagen entdeckt, als ich ausversehen nichts gedacht habe. Später habe ich oft versucht, nichts zu denken, aber das ist nicht einfach. Selbst mit vielen meditativen Übungen und jahrelangen Yogakursen, sind die Augenblicke gezählt, in denen ich nicht denke. Damals, als ich meinem Engel das erste Mal begegnet bin, habe ich nichts besonderes unternommen. Er war einfach da. Ich habe ihn eingelassen und aufgenommen. Er hatte eine einnehmende Gegenwart. Ich habe ihn in jede Zelle eingelassen und in meinen Gedanken aufgenommen. Ich wurde völlig überflutet. Er war allgegenwärtig in mir.

Ich habe mich eingelassen. Was für eine Erfahrung! Ich war ganz da. Jetzt suche ich oft dieses Erlebnis. Ich würde es gerne wiederholen.

Aber der Chor war nicht dasselbe. Der Chor macht Angst. So viele Engel auf einmal, das kann ich nicht ertragen und dann auch noch das Singen. Nein, ich glaube fast, dass mich mein Engel gewarnt hat. Diese Engel, die konform gehen, sind weder Schutzengel noch Würgeengel. Es ist eine Art Weihnachtskonsumbegleitchor. Mein Engel dagegen ist anders. Er singt nicht im Chor. Er hört mir zu. Er spricht nicht. Er hat mir nie ins Ohr geflüstert. Seine Anwesenheit überträgt sich auf mich ohne Worte. Sie ist so stark, dass ich manchmal nicht mehr unterscheiden kann, wo ich anfange und er aufhört. Ich fehle mir nicht. Ich bin genauso stark anwesend wie er. Wenn er da ist, bin ich fast anwesender. Dann kann ich Kontakt aufnehmen, ohne mich zu verlieren. Ich dehne mich aus. Ich breite meine eigenen Flügel aus und schwinge mich ins Universum. Wo auch immer das ist. Das Universum ist überall – in mir. Ich bin überall, außer mir. Ich bin alles. Es gibt keine Gewalt mehr. Gewalt braucht Gegensätze. Gewalt lebt vom Mangel. Wo es keinen Besitz gibt, gibt es auch nichts zu verteidigen. Im Moment, in der momentanen Welt, ich meine in der Welt, in der ich zur Zeit lebe, ist das anders. Sie ist voller Misstrauen und Aggressivität.

Gerne würde ich mit meinem Engel ein geruhsames Leben führen.

Seine Welt lässt meine Welt in einem anderen Licht erscheinen. Ich nehme ein Prisma und alle Farben leuchten bis in den letzten Winkel. Eine unbegrenzte Fülle. Ich nehme Farbe an. Je nach Lust und Laune. Es gibt alle Schattierungen. Wenn es zu dunkel um mich wird, wenn ich schwarz sehe, dann brauche ich meinen Engel. Er kommt ungefragt. Er ist ja immer da. Es wird nur dunkel, wenn ich ihn vergesse, wenn ich ihm seinen Platz nicht lasse, wenn ich alles alleine machen will.

Wenn ich so richtig nachdenke, dann singt der Chor auch nur dann, wenn ich fliehe. Ich höre ihn, sobald ich mich von meinem Engel entferne. Es klingt wie eine Warnung. Bis hierhin und nicht weiter!

Ich versuche also immer öfter auf meinen Engel zu hören und mit ihm unterwegs zu sein. Welch eine Wonne. Ich habe lange gesucht, überall, in der Literatur, in der Kunst, in der Wissenschaft, kurz in Büchern beziehungsweise in dieser Welt, wie Goethes Faust. Ich habe sogar die Osterglocken läuten hören, die Faust vom Selbstmord abgehalten haben. Vielleicht habe ich sie mit dem Engelschor verwechselt. Ja, das wird es sein. Das gäbe eine Erklärung. Inzwischen sind Sonnenblumen an dem Platz der Osterglocken gewachsen. Sie blühen genauso gelb. Sie haben mehr Farbe, aber sie bleiben auf demselben Fleck Erde. Sie breiten sich aus. Sie wuchern. Ich habe einige entfernt, damit die anderen Platz haben. Ob Osterglocke oder Sonnenblume, ob Christentum, Buddhismus oder Islam, alles wächst auf demselben Boden. Es ist ein verlangen nach Schönheit. Der Wunsch nach mehr. Ein Hunger nach einer anderen Dimension. Die Larve, die auf den Schmetterling wartet. Wann werde auch ich aufbrechen? Der Schmetterling kann nicht zurück. Oder stirbt er, um wieder eine Larve zu werden? Wie oft muss ich noch von vorne anfangen? Wie oft entwischt mein Engel, bevor ich alle Farben gesehen habe? Die Larve muss sterben, damit der Schmetterling leben kann.

Es entsteht eine Leere. Ein Abgrund. Ein Augenblick des Übergangs. Eine Lücke. Aktionslos. Das Aktionslos. Das große Los. Der Topgewinn.

 

Ich versuche also so oft wie möglich und so viel Kontakt wie möglich mit meinem Engel aufzunehmen. Es ist eine Beziehung, die gepflegt sein will.

Ich dachte: Ich bin ich. Er bleibt er. Wie gehabt ein Engel eben und so wusste ich nicht, ob ich die Gelegenheit im Engelschor zu singen, hätte wahrnehmen können. Aber manchmal denke ich inzwischen, dass ich mein Engel selber bin. Oder dass ich selber mein Engel bin. Ich habe schon erwähnt, dass ich eine Art Fusion, eine Symbiose mit ihm eingegangen bin. Das würde noch einmal mehr erklären, dass ich den vermeintlichen Engelschor fliehen musste. Ich bin er und er ist ich. Ich wollte meine Identität nicht aufgeben. Selbst in einer Symbiose sind zwei.

Heute habe ich das erste Mal grün gesehen. Das Farbensehen kenne ich schon. Ich schicke mir selbst weißes Licht, wenn ich krank bin oder gelb, wenn ich zu wenig Lebensenergie habe. Rot sehe ich manchmal am Anfang einer Meditation. Also, wie gesagt, ich bin er. Ich kenne viele Farben, aber wie es heute zu dem Grün kam, weiß ich selbst nicht. Man sagt, grün ist die Hoffnung. Worauf kann ich hoffen? Worauf will ich hoffen? Auf eine große Erbschaft? Auf eine gute Stelle? Auf eine bessere Gesundheit? Auf ein langes Leben?

Als Engel interessiert mich nichts dergleichen. Als Engel denke ich eher an eine leichte Brise, die mich in ungeahnte Höhen entkommen lässt. Ich habe noch nie einen bodenständigen Engel gesehen. Ein Engel braucht Luft. Ein Engel braucht Weite und Himmel.

Ich bin mein Engel. Ich brauche Weite. Ich gehe aus. Ich habe das Sofa verlassen. Ursprünglich wollte ich wie alle anderen zur Tür hinausgehen. Möglicherweise hat man mich auch in den Straßen und Cafés gesehen, aber inzwischen bin ich mir sicher, dass es keine gute Idee war, die eingefahrenen Wege aufzunehmen, selbst Seitenstraßen und Sackgassen reichen nicht aus. Ich muss Höhe haben. Ich brauche Raum, Handlungsspielraum, Offenheit in jede Richtung, selbst nach hinten. Zuviel Vergangenheit, Altlast und Erinnerung behindern meine Kreativität. Meine Aufgabe ist keine halbe Sache. Wenn ich mich von Kleinigkeiten ablenken lasse, dann kann ich sie nicht mehr erfüllen.

Ich muss aufpassen, dass ich nicht vom Weg abkomme. Das ist nur so eine Redensart. Für mich gibt es keinen Weg. Ich bin wie gesagt, überall. Und wenn man mich zur Tür hinausgehen sah, so ist das eine Illusion gewesen, oder eben auch eine Redensart. Man muss schließlich manchmal hinter sich abschließen, um sicher zu sein, oder die Tür hinter sich zumachen, um neu anzufangen, oder?

Für einen Engel gibt es kein Hindernis. Also braucht er diese symbolischen Redensarten nicht. Er ist überall. Ich bin überall. Wer will mir begegnen? „Vöglein, Vöglein an der Wand, wer fliegt weiter im ganzen Land?“

Ich nehme Höhe ein. Meine Energie ist Leben. Ich spiele mit den Sternenkindern. Wenn wir spielen, spielen wir nicht verstecken, da uns sowieso keiner sieht. Wir spielen verkleiden, damit wir mit den Menschenkindern in Kontakt kommen können. Letztes Mal als ich eine Wespe war, habe ich es doch wirklich geschafft, einen Stich in einem Daumen zu platzieren, der mich drei Tage lang in Erinnerung hielt, bis die Schwellung abnahm und der Schmerz verhallte. Aber immerhin wurde ich eine Zeitlang nicht vergessen. Ich habe zum Nachdenken angeregt und zur Ruhe aufgerufen. Das Wort „Bewusstsein“ hat bei mir Hochkonjunktur. Gleich danach kommt „Respekt“ und dann kommt eine Weile nichts, weil „Liebe“ schon aus der Mode ist. „Liebe“ ist abgenutzt. Außerdem hat ein Engel keine Gefühle. Er ist neutral. Oder besser gesagt, gleichmäßig parteiisch.

Ich habe keine Beine, um zu gehen. Ich brauche keine Flügel, um zu fliegen. Ich bin überall. Ich bin ein Zwischenwesen, ein Ton in einer Melodie.

Ich breite mich aus. Ich manifestiere mich, wo ich will.

Ich bin ich. Ich bin mein Engel. Ein Engel ohne Flügel und Blütenblätter.

Als ich ganz Rose war, war das Leben einfach. Ich habe meinen Duft von meinen roten Blüten ausstrahlen lassen. Heute ist das anders. Als Engel habe ich einen Auftrag. Ich bin für mich verantwortlich. Ich kann nicht einfach nur so in den Tag hineinleben. Da würde ich ja Zeit verlieren oder vergeuden.

Zeit ist eine seltsame Angelegenheit. Es ist allgemein bekannt, dass sie mal schnell vergeht und dann wieder zäh wie Kaugummi dahin fließt. Meine Lieblingszeit heißt Ewigkeit. Aber leider erlebe ich sie nur augenblicksweise. Ja, schon richtig gelesen. Es scheint ein Widerspruch, aber Engel kennen keine Widersprüche. Alles hat seine Existenzberechtigung. „Ein Augenblick Ewigkeit“ ist der schönste Satz, der mir in den Sinn kommt. Der schönste Satz in meinem bisherigen Leben. Na ja, ich will nicht übertreiben. Es wird schnell zu pathetisch. Aber ich kann nicht umhin, das Außergewöhnliche dieses Satzes zu erwähnen. Er ist eben mehr als ein Satz und wenn er eintrifft, dann brauche ich keine Worte mehr. Dann gibt es keine Worte mehr. Deshalb kann ich es hier auch nicht beschreiben und doch würde ich dieses Glück gerne teilen, mitteilen.

Die erste Voraussetzung ist Gedankenlosigkeit. So oft negativ besetzt, aber in Wirklichkeit ist Freiheit nur dann möglich, wenn das Denken abgeschaltet ist. Natürlich gibt es auch punktuelle Freiheit. Wenn ich glaube frei zu sein, weil ich zwischen zwei Dingen wählen kann. Doch wieder hilft eine Redensart weiter „die Qual der Wahl“ und schon wissen wir ganz genau, dass wir nicht frei sind. In der Ewigkeit muss man keine Entscheidung treffen. Ich fange also noch einmal von Vorne an.

Wenn ich meinen „Augenblick Ewigkeit“ erlebe, dann denke ich nicht. Ich erkenne den Augenblick an seiner Weite, an der Grenzenlosigkeit, an seiner Leere. „Die Zeit bleibt stehen“ , sagt man auch, aber das ist nicht ausreichend intensiv. Kommt dem Ganzen aber sehr nahe. „Die Zeit bleibt stehen“ kann immerhin positiv oder negativ sein. Der Ausdruck legt nicht fest. Für einen Engel bleibt die Zeit nie stehen. Das ist sehr menschlich, dass die Zeit stehen bleibt. Wenn man den Eindruck hat, dass die Zeit stehen geblieben ist, dann will man eigentlich nur sagen, dass sich nichts verändert hat, dass keine Entwicklung stattgefunden hat.

 

Bevor ich völlig ins philosophieren abschweife, erzähle ich besser von meinem letzten Augenblick Ewigkeit. Es war an einem Sonntagmorgen kurz nach dem Aufwachen, ich war noch halb in meinem Traum. Er hing in der Luft und wollte sich verflüchtigen, anstatt ihn festzuhalten, habe ich mich mit ihm aufgelöst. In alle Richtungen. Es ist an einem Sonntag passiert, weil ich an einem Werk- sprich Arbeitstag nicht die Muse zu einer Auflösung habe. Was für ein hässliches Wort für diesen freien Fall, oder besser „freien Flug“. Es gibt für solch ungewöhnliche Erfahrungen kaum Worte. Ich bin also gezwungen in Bildern zu sprechen.

Am Sonntagmorgen gehe ich mit meinem Traum aus. Ich tauche in den Himmel hinein, in blau, in ein Blau, ein intensives Blau, dicht, aber nicht schwer. Mein Blick macht die Vorhut. Ich sehe klar. So klar, dass alles durchsichtig erscheint. Ich nähere mich an, wenn ich mich entferne. Sobald ich den ersten Ton höre, werde ich aufmerksam. Ich lausche. Ich stimme mich ein. Ich schwinge mit. Der Ton vibriert auf derselben Frequenz wie das Blau. Ich summe den Ton, das Volumen. Ich begebe mich in den Tonraum. Die Melodie kommt mir bekannt vor. Die fallenden Herbstblätter stimmen mit ein. Ich werde übertönt, aber ich summe weiter, ich singe lauter. Ich rufe. Ich rolle mit einem Ton durchs All. Rund. Kugelrund.

Ich drehe meine Runden um jeden Planeten, der mir begegnet. Es ist eine enorme Entdeckung. Kein Vergleich mit dem Planet Erde. Als ich meine Bahn um Saturn aufnehmen wollte, war ich so fasziniert von seiner Umgebung, dass ich beinahe vergessen hätte, rechtzeitig abzubiegen. Alles ist in ständiger Bewegung. Ich selbst rolle ohne Unterlass. Ich habe mich im nebulösen Umfeld von Saturn so sehr unter die anderen rollenden Partikel gemischt, dass ich mich fast verloren hätte. Zum Glück war da noch der Ton. Der Ton hat mich gerettet. Der Ton, den ich beim ersten Mal so gefürchtet habe. Der Gesang der Engel, der mich aus der Bahn werfen wollte, genau dieser Ton von mir selbst gesungen bekommt eine vollkommen andere Dimension. Ich lasse ihn in mir aufkommen, fülle mich mit ihm an und verbinde mich mit meiner Umgebung, wenn ich ihn loslasse.

Von Weitem sieht er fast aus wie ein Planet. Rund, klein mit ein paar Tupfern vom Üben. Ich hätte ihn gern etwas klarer. Ich brauche Klarheit. Ich konzentriere mich auf ein Zentrum. Mein Zentrum. Eine Kugel hat doch ein Zentrum? Oder gelten im Weltall andere Gesetzte? Wie konnte ich mich auf diese Reise einlassen, wo ich mich noch nicht einmal auf dieser Erde zurecht finde? Ich brauche Orientierung. Ich lasse Saturn rechts liegen und fliege Richtung Jupiter. Das war keine gute Idee. Ich korrigiere meine Flugrichtung. Das ist nicht einfach im Weltall. Es gibt weder Verkehrsschilder noch gerade Strecken. Das erinnert mich an mein Leben auf der Erde. Meine Orientierung ist völlig abwegig. Ab vom Weg. Ab von den eingefahrenen Bahnen.

Ich halte mich nicht immer an die Fahrtrichtung, obwohl ich nicht gern im Kreis gehe. Ich möchte weiter kommen. Weiter? Wohin? Weiter im Leben? Weiter in der Karriere mit viel Erfolg?

 

Wenn man einmal einen Besuch bei Saturn abgestattet hat, kann man nicht viel weiter kommen! Eine Milchstraße neben an. Was ist das schon?

Ich singe. Ich stimme ein in das Konzert. Ich riskiere die Harmonie. Ich riskiere die Gemeinschaft. Ich rolle weiter um Saturn. Einmal, zweimal... „Einmal ist keinmal, sagte die Maus aber die Falle schnappte nicht zu.“ Und sie hatte ihr ganzes Leben vor sich.

Sie konnte von nun an ihr Leben nach Lust und Laune gestalten. Wer kann das schon? Das will gelernt sein. Ich selbst übe zur Zeit noch. Ich versuche mein Leben in die Hand zu nehmen. Es ist etwas groß, zu groß. Selbst wenn ich es mit anderen teile, ist es noch zu viel für mich. Das Leben übersteigt mich. Ich fliehe. Ich fliege.

Ein weißer Lichtpunkt weckt mein Interesse in der nebulösen Dunkelheit. Ich gebe ihm einen Namen. Ich ordne ihn ein. Ich schaffe meine eigenen Kategorien.

Das Licht ist intensiv. Zu intensiv. Meine Neugier ist geweckt. Ich versuche mich ihm anzunähern. Ich erwarte alles. Ich stelle mir die Konzentration der Energie im Zentrum vor. Mir wird schwindlig. Um mich herum sind so viele Zentren, lauter Lichtplaneten. Ich knalle von einer Lichtquelle auf eine andere. Ich rolle um mich selbst und werde zurück geworfen. Ich drehe mich um mein eigenes Zentrum. Hier bin ich zuhause. Ich bin bei mir. Ich bin angekommen. Ich bin aufgehoben. Ich habe mein ganzes Leben vor mir.

Ich sollte mich auflösen. In alle Einzelteile zerspringen. Ein Planet beim Urknall.

Ich werde also ohne mich weiterleben. Ohne Erinnerung. Ohne Vergangenheit. Ohne Kindheit. Ohne Psychoanalyse. Ohne Schuldgefühle.

Ein Verb ohne Subjekt. Ein Tunwort ohne handelnde Person. Ein weißer Fleck auf weißem Hintergrund. Brennen, essen oder schlafen. Denken, sprechen oder hören. Kann ein Gedanke vor dem Denken ohne die Denkerin existieren? Gibt es Liebe ohne Liebende?

Ein Engel werden. Ein neutrales Wesen ohne Persönlichkeit, ohne Geschlecht, ohne Nationalität. Ich werde ein Lichtwesen sein und im Chor der Engel untergehen.

Mein Ich geht auf, geht unter. Ich gehe über. Ich will werden. Mein altes Ego will etwas werden. Etwas anderes werden. Ich bin bereit, mich aufzulösen, um ein Teil des Ganzen zu werden. Ich möchte „sein“. Ich möchte existieren. Ich will leben. Ich möchte Bedeutung haben. Ich will Anerkennung. Ich brauche Liebe. Wo ist meine Unabhängigkeit abgeblieben? Wo ist meine Freiheit? Mein Menschsein?

Ich kann mich entwickeln. Ich kann kreativ sein. Ich bin sauber. Ich bin ordentlich. Ich bin unschuldig. Es gibt keine Anklage. Vielleicht hat der Richter Urlaub. Ich bleibe frei. Ich bin frei. Es ist eine relative Freiheit. Eine begrenzte Freiheit. Sie ist nicht von Dauer. Sie ist nicht allumfassend. Sie schränkt mich ein. Sie bindet mich an mein Leben. Ich lasse sie los. Ich werde nichts.

Ich werde nicht mehr. Ich werde gewesen sein. Mein Körper, das war Ich.

Ich vergesse mich. Ich vergesse mich beim Singen. Ich vergesse mich beim Schwimmen, Wandern, Malen...

Ich tanze als Elektron auf einem Lichtstrahl. Ich schreibe. Ich schreibe „ich“.

Eine Wellenlänge. Eine Vibration ohne Übergang. Eine Verbindung zu einer anderen Welt.

Ich erlebe den Urknall ein zweites Mal. Eine Geburt. Das Universum zerbricht in Einzelteile. Eine Welt entsteht.

Eine neue Welt umgibt mich. Ich schreibe „ich“ ohne Erinnerung. Ohne Vergangenheit. Es gibt nur das Leben vor mir. Ich lebe die Zukunft. Ich werde mein Traum. Ich bin mein Engel. Ich berühre Weite, einen unendlichen Raum. Die Zukunft ist bei mir angekommen.

Schwimmen, tanzen, malen, schreiben. Sprechen ohne Adressat. Singen ohne Publikum.

Das Elektron rollt auf dem Lichtstrahl.

Ich bin eine Spiegelung ohne Original, eine Illusion ohne Ursprung. Ich bin die Verbindung zwischen Himmel und Erde. In beide Richtungen.

Publié dans Fragment

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